Mit mir alleine Beim Virgin Money London Marathon im Rahmen der Europameisterschaft des DBS im Marathon

Mit dem Adler auf der Brust im roten Nationaltrikot für die deutsche Nationalmannschaft bei den World Paraathletics in London starten zu dürfen, ist schon was Besonderes. Nie hätte ich mir 2011 nach meinem ersten Marathon oder auch davor so etwas je vorstellen können. Ich, mit der ganz großen Elite in einem Hotel, hautnah! Im Athletenhotel und bei einem der größten Marathons der Welt fast alleine für sich, also auf freier Strecke laufen zu dürfen, unfassbar. Ich kann es auch zwei Tage nach diesem Event immer noch nicht fassen. Leider geht nicht jedes Märchen gut aus...

Bereits zwei Tage vorm Start wurde uns prophezeit, dass es der heißeste Marathon in London aller Zeiten werden würde. Weil es am Vortag leicht bewölkt war und sogar ein wenig regnete, blieb ich ruhig und hoffte, es würde nicht so kommen. Leider war es schon auf dem Weg zum Start relativ warm. Wunderbarer Sonnenschein und wolkenloser Himmel was herrlich aussah, uns aber auf der Strecke alles abverlangen würde, was wir haben. Der Startschuss fiel um 09:00 Uhr für uns und wir machten uns auf den Weg. Wir, also alle Paraathleten der Blinden und Sehbehinderten, die Rollstuhlfahrer waren bereits auf dem Feld und starteten um 08:55 Uhr.

 

Es lief nach Plan. Wir waren genau in der Zeit, alles fühlte sich gut an. Vom IPC bekamen wir die Auflage, dass wir nicht im Windschatten einer anderen Startklasse laufen dürfen. Das heißt also, dass ich meinen Kollegen Steffen Klitschka und Hans Reinhard Hupe (T12) mit meiner Startklasse T13 nicht zu nah auflaufen darf. Nun hatten wir aber alle dasselbe Ziel – Sub3. Wie also der Sache gerecht werden? Die Jungs waren für meinen Geschmack etwas zu schnell angegangen, also ließ ich mich so ca. 2-3m zurückfallen und hielt sie auf Sichtkontakt. Das war legal und für mich ok. Ich hielt mich an die geplante Pace von 4:15min/km und nicht unter 4:10min/km zu laufen. So ging das gut bis Km 16, wo ich mir das erste Gel einverleibte.

 

Es war mir jetzt schon zu warm und ich war drauf bedacht, Körner zu sparen solange ich nur konnte. In der ersten Hälfte zu viel zu wollen, die anderen gar zu überholen oder zu jagen, war viel zu früh. Ich habe keine Kilometerschilder erkennen können, die Meilen waren mit großen Bögen unter denen man durchlief gekennzeichnet. Ich rechnete im Kopf um und verließ mich auf die Kilometerangaben meiner GPS Uhr, die relativ genau waren. 5 Meilen sind ca. 8km. Das war eine gute Orientierung für mich. So sind 10 Meilen ca. 16km und meine GPS bestätigte das brav. Jetzt nahm das Schicksal seinen Lauf. Die GPS Uhr stieg aus. Ich weiß nicht wieso. Sie wollte an den PC angeschlossen werden, ließ sich nicht mehr bedienen und zeigte kurz darauf einen leeren Bildschirm.

 

5min lief sie noch im Hintergrund mit und piepste bei jedem Kilometer aber dann war sie still und aus. Natürlich war sie voll aufgeladen, es lag nicht am Akku! Sie ist einfach abgestürzt. Das war insofern ein Drama, weil ich den Kurs jetzt für mich alleine hatte! Hans Reinhard Hupe musste seinen Guide wechseln, er ist ja vollblind. Deshalb zog er das Tempo kurz vor Meile 13 erheblich hoch um in der Wechselzone die Zeit wieder rauslaufen zu können. „Ja spinnt denn der?“ dachte ich so bei mir, weil ich nicht wusste, was er genau vor hatte und warum er so schnell wurde. Wo die Wechselzone war, wusste ich nicht. Fakt war, ich hatte keinen Sichtkontakt mehr. Sie waren weg und zwar alle! Ich wusste nicht ob Steffen jetzt vor oder hinter mir war, wo Hans Reinhard war und Tien Fung war sowieso der Schnellste von uns allen und vorneweg gelaufen. Ich konnte mich nur noch auf mein Körpergefühl verlassen.

 

Das ist zwar nicht das Schlechteste, wenn ich einmal auf mein Marschtempo eingelaufen bin, aber problematisch, wenn kein Orientierungspunkt da ist, du nicht weißt wo du bist, wie weit es noch genau ist, welche Durchgangszeit du zuletzt hattest, faktisch völlig desorientiert im Rennen bist. Ich konnte mich mit diesem Mist und der Uhr jetzt nicht beschäftigen. Ich musste die Nerven behalten. Ich durfte mich auf keinen Fall zu sehr darüber ärgern, sonst werfe ich dieses Mistding grad irgendwo an den Streckenrand um das sinnlose, unbrauchbare Zusatzgewicht los zu werden! Ich bin nun mal stark sehbehindert. Auch wenn ich ohne Guide laufen kann, muss ich mich höllisch auf die Strecke konzentrieren. Wenn keiner vor mir läuft, muss ich umso genauer schauen wo es lang geht. Sicher ist ein Verlaufen in London fast bis ganz unmöglich. Du kannst aber Zusatzmeter damit verlieren, dass du die Kurve zu ausladend läufst, weil du nicht siehst wo genau es jetzt lang geht, du in dem zu durchlaufenden Parkhaus etwas Schlangenlinie läufst, weil du den Ausgang suchst, all das kostet Zeit. 

 

Wenn du jetzt nicht jedes Meilenschild erkennst und keine Kilometerangaben hast, faktisch alles nur noch schätzt, brauchst du schon verdammt viel Gefühl, Erfahrung und Selbstbewusstsein. Ich meine, selbst die Elite weiß wo sie ist! Sie haben ihre Zeiten im Kopf, auf dem Führungsfahrzeug angezeigt und Pacemaker. „Sie schreien nur für dich, sie sind nur für dich hier!“ Damit motivierte ich mich und es stimmte insofern, weil die Leute brüllten als ich vorbeilief, es war ja auch sonst keiner da! Die einen lagen vorn, das Hauptfeld noch weit zurück. Du fühlst dich wie ein Kipchoge oder ein Kipsang auf Weltrekordkurs! Die Leute toben, schreien deinen Namen, feuern dich an und peitschen dich nach vorn. Ich stolperte über einen so genannten „Speedbump“. Das sind Erhöhungen, um eine verkehrsberuhigte Zone zu gewährleisten. Diese sind schon ziemliche Stolperfallen, wenn du sie nicht sehen kannst. Ich kann sie eben nicht sehen! Das war wie im Fußballstadion! Alles brüllte und plötzlich „ohhhh“, als ich drohte zu fallen. Der laute Jubel, als ich mich dennoch fing und wieder anlief, auf Touren kam – unbeschreiblich.

 

So erkannte ich die eine oder andere Meile und wusste natürlich, dass ich 26,2 Meilen zu laufen hatte und auch wie weit das noch ca. sein würde. Blöd nur, dass ich nicht sehen konnte, wie weit die Zeit bereits fortgeschritten war – ich wusste also nicht, ob ich noch in der Zeit lief und der Kurs mit Sub3 noch zu halten war. Was ich wusste, es wurde mir definitiv jetzt zu warm. 30km näherten sich und ich fragte mich ob ich noch etwas zulegen sollte und sogar müsste. Zudem hatte ich permanenten Gegenwind und wusste nicht, ob ich den nun hassen oder lieben sollte. War er weg, war es zu warm und war er da, kühlte er mich angenehm runter. Allerdings war es ja wie gesagt Gegenwind. Der bremste mich folglich auch unmerklich aus. Gegen den Wind schneller zu laufen war zu dem Zeitpunkt unklug. „Jetzt geht es los!“, brüllte eine Holländerin noch vorhin bei km 21 – wenn die wüsste wie recht sie hatte... 

 

Ich konnte nichts mehr zulegen. Ich konnte es aber halten und fühlte mich erst einmal besser als in Berlin 2017, sechs Wochen nach dem Deutschlandlauf. Was ich definitiv aus dieser Hitzeschlacht mitnehme ist, ich hätte mir Salztabletten mitnehmen sollen. Bislang war ich immer der Meinung, für einen Marathon der gerade mal 3h dauert, wenn es Scheiße läuft, brauchst du kein Salz. Das ist ein Irrglaube. Das hätte mir vermutlich mehr geholfen als das süße Gel. Ich hatte noch Koffein und Gels. Eines davon warf ich weg, es tat meinem Magen nicht gut. Das hoch dosierte Koffein fand er ebenso nicht toll. Allerdings wirkte das und ich fühlte mich noch relativ gut, wenn es mir auch zunehmend echt jetzt zu heiß wurde. Ich quälte mich weiter, versuchte mich an der tollen Stimmung zu erfreuen, das Tempo zu halten, ruhig zu bleiben, die Nerven zu behalten und ging mit mir ins Gericht: „Wie lange hast du dafür gearbeitet? Was musstest du dafür alles entbehren. Tage und Wochen des Trainings bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit. Jedes verdammte Wochenende hast du dir mit Intervallen und Langstreckentraining versaut. Alles hast du für diesen Moment investiert. Freundin, Ernährung, Kollegen, alles musste sich nach diesem Ziel richten. Absolut fokussiert und diszipliniert und jetzt? Jetzt solltest du die Lorbeeren ernten du Penner und endlich mal laufen!

 

Schließlich sind die Leute da am Streckenrand für dich da!!!!“ Plötzlich nach dem Tunnel – Sichtkontakt! Es muss ein T12er sein, weil er einen Guide-Läufer dabei hatte. Diese sind zu erkennen an ihren gelben Shirts mit der Aufschrift „Guide-Runner“ Es war Hans Reinhard Hupe! Ich überholte ihn und merkte, dass der deutlich langsamer als ich war in dem Moment. Zumindest empfand ich das so. Ich war erst einmal wieder voll motiviert, weil ich wusste, wenn er hinter mir liegt oder bei mir läuft, sind wir noch auf Kurs unter 3h! Wir hatten ja alle das gleiche Ziel und wenn er intelligent gelaufen ist, dann passt alles! Die Leute tobten. Ein weiterer Sichtkontakt vor mir – ein T13ner? Ich kann es nicht sagen, jedenfalls lief er ohne Guide. Die Meute tobte, weil sie einen Zweikampf sehen wollten und den wollte ich ihnen jetzt bieten! Ich machte mit der linken Hand beim Laufen eine grapschende Bewegung nach vorn, so als ob ich ihn mir greifen wolle, mich ran ziehen wollte! Das Publikum begriff sofort und brüllte noch lauter – unglaublich das es noch lauter ging.... Ich ging vorbei und machte mir im Kopf klar „was hinten ist, bleibt hinten! Was mich überholt, hat es verdient, weil definitiv besser!“ Waren es nun noch ein oder zwei Meilen ins Ziel und wo genau war ich?

 

War das schon Westminster? Keine Ahnung. Motorräder durchschnitten den Lärm der Zuschauer und überholten mich. Ich erkannte die momentane Ziel Zeit und las eine 2h53min Zeit! „Alles gut! Du schreibst Geschichte heute, das Märchen von London!“ Ich zog das Tempo an und kämpfte mich vorwärts. Schwarze Läufer passieren mich – The boys are still there! Die Spitze ist vorbei, die Damenspitze passierte uns ja lange zuvor bei ca. km 30 bzw. kurz davor. Das zog sich und zog sich und wollte kein Ende nehmen. Meine Kräfte hingegen schon. Ich prügelte alles was noch ging über den Kurs, sah die lange Zielgerade, das Zielbanner was nicht näherkommen wollte und bekam einen Schock als ich die Zeit im Ziel ertragen musste. 03h06min! Das tat wirklich weh. Völlig am Ende mit Psyche, Physis und nervlich torkelte ich weiter und traf auf die Bundestrainerin, die uns alle einsammelte. Gratuliert hat sie uns erst einmal nicht. „Hast du Hans Reinhard gesehen?“ war zunächst ihre Frage. „Irgendwo hinter mir!“, antwortete ich. Tieng Fung war da, Steffen auch. Tini war fertig und kämpfte mit Krämpfen und dem Schmach, 15 Sekunden über der 3h Marke gelandet zu sein. Keiner von uns konnte heute die 3h Marke knacken, es war zu warm.

 

Das zog sich durch das gesamte Feld, von Elite bis Hobbyläufer. Da ich im Elitehotel war, haben mir einige der Topläufer das auch bestätigt. Maximal 10min und mindestens wohl 3min, lagen alle über ihrem geplanten Ziel. Selbst ein Mexikaner, der eigentlich eine 2h45min laufen kann, musste eine über 3h Zeit, noch nach mir, ertragen! Knapp über 3h hätte ich ja noch akzeptiert. 6min über 3h tun schon weh. Trotzdem sind die Gründe dafür bekannt. Ich habe hart trainiert, ich war gut vorbereitet und ich bin 100% sicher, ich hätte es bei anderen Wetterbedingungen geschafft! Ich war auf Kurs, es fühlte sich besser als in Berlin an und mal ohne die Schuld nur der Uhr zu geben, hatte die ihren großen Anteil daran. Ich konnte das Tempo auch ohne sie weiter halten, weil sie zu Beginn funktionierte und ich mein Tempo in etwa im Gefühl hatte. Das fiel durch die zunehmende Hitze von bis zu 26 Grad, um 13 Sekunden pro Kilometer ab km 30 ab, was kein Einbruch ist!. Wenn mir zu dem Zeitpunkt jemand gesagt hätte, dass ich ca. 13sek zu langsam bin, ich hätte sicher noch was mobilisiert. Unter 3h währe es wohl trotzdem nicht geworden, aber näher an die 3h ran. Ich war ja bis zuletzt der Meinung, ich bin voll auf Kurs, wenn es auch schwer war. Ich war schneller als in Jamaika letztes Jahr und kann mit der Hitze auch umgehen. Ich kann eben nur nicht so schnell laufen wie bei kühleren Temperaturen. Und eine persönliche Bestzeit erfordert zudem beste Bedingungen. Es war schön und sonnig in London, dennoch zu warm ohne Schatten und mit Wind.

 

Fazit:

Ich bin stolz, für die deutsche Nationalmannschaft gestartet sein zu dürfen und es ist und war mir eine Ehre. Ich wäre gern eine bessere Zeit gelaufen und hätte meine Bestzeit gern erneut bestätigt, bzw. unterboten. Das war bei diesen Temperaturen aber nun mal nicht möglich. Mit diesem Problem war ich nicht alleine. Ich habe mir den Start in London hart erarbeitet, ich habe mich qualifiziert und habe dort alles gegeben, was in meiner Macht steht. Ich laufe erst seit 2010 ambitioniert, habe bald mehr Ultras wie Marathons an den Beinen, erfuhr erst sehr spät, dass ich im Behindertensport noch Chancen habe und habe keine Leichtathletikvorgeschichte.

 

Ich werde in den Ultrabereich zurückkehren. Ich schätze zwar das ich nochmal den einen oder anderen Marathon unter 3h laufen kann, meine Zeit für die Weltspitze der Paraathleten aber leider vorbei ist. 10 Jahre früher, hätte, wenn, aber, und... Nützt alles nichts, man muss den Tatsachen ins Auge schauen! Ein großes Ziel wie den Spartathlon dafür aufzugeben, in London noch einmal zu starten, eine Sub3 zu erreichen, dennoch Letzter in der Weltrangliste zu sein und wenn überhaupt nochmal eine WM laufen zu können, ohne eine realistische Chance auf die Paralympics zu haben, halte ich nicht für sinnvoll. Die Norm für Tokyo 2020 auf 5000m in 15min zu laufen, schaffe ich erst recht nicht mehr. Gute Freunde bestätigen mir diese Entscheidung, mein Trainer Kurt Stenzel sieht die Situation ebenso realistisch. Treffen muss ich die Entscheidung wie jeder von uns, alleine. Ich liebe Leistungssport und ich betreibe diesen weiter, so lange es mir im Rahmen meiner Möglichkeiten möglich ist.

 

Berufssportler kann ich nicht mehr werden, deutscher Meister im Ultramarathon aber schon! Exotische Momente zu erleben und Dinge zu tun die nicht jeder macht, ist meine Welt.